Nach wahren Begebenheiten

Text: Ramona Wiedemann

Lebenslauf

 

Hallo Leute, mein Name ist Martin. Martin der coole.

Ich möchte euch heute in kurzen Etappen meinen Lebenslauf darlegen. Diese Geschichten sind keineswegs frei erfunden, sondern basieren zum Leidwesen aller Betroffenen auf wahren Begebenheiten.

Vor 30 Jahren, am 01.April 1973 folgte ich meinem überdurchschnittlichen Drang nach Freiheit und verließ meine geliebte, jedoch viel zu klein gewordene mütterliche Einraumwohnung. Der Abschied fiel mir so schwer, dass ich genau 24 Stunden Bedenkzeit benötigte. Ich hatte keine Ahnung, was mich da draußen erwartet. Schließlich entschloss ich mich doch dazu, wie man so schön sagt, das Licht der Welt zu erblicken. Mich überkam ein überwältigendes Gefühl. Diese Freiheit, diese Luft, dieses Licht, nur etwas kühl war es. Während ich staunend meine neue Umgebung genoss und vor lauter Begeisterung keinen Ton aus mir herausbrachte, spürte ich plötzlich einen Schmerz auf meinem Po. Was war das? Jedenfalls keine nette Begrüßung. Trotzdem entschloss ich mich zu bleiben und keine größeren Schwierigkeiten zu bereiten. Die erste Zeit schlief ich viel. Wenn ich mal wach war, gab es meistens etwas zu futtern. Später beobachtete ich meine Umgebung ganz genau und prägte ich mir jeden Unsinn, den ich aufschnappen konnte ein. Man konnte ja nie wissen, wozu es einmal gut ist. Außerdem bemühte ich mich auf jede einzelne Silbe zu achten und alles nachzuplappern, was gesprochen wurde. So kam es, dass ich mit einem Jahr schon alle Wörter nachsprechen konnte. Meine Neugierde wuchs immer mehr. Eines schönen Tages, ich war gerade zehn Monate alt und voller Tatendrang, beschloss ich mich auf die Socken zu machen, um meine nähere Umgebung zu erkunden. Doch mein erster Versuch im aufrechten Gang die Wohnung zu verlassen ist gescheitert und endete am Türrahmen. Als Denkzettel behielt ich eine Narbe, um nicht zu vergessen, wie schmerzhaft so etwas ist. Meiner Unternehmungslust schadete das jedoch nicht. Bereits zwei Monate später spazierte ich schon allein über den Hof, wo es für mich viele neue, interessante Dinge zu entdecken gab. So richtig zufrieden war ich allerdings noch nicht, denn die Welt schien größer zu sein, ich wollte sie erkunden. Ich bekam recht schnell heraus, dass ich mir einen besseren Überblick verschaffen konnte, indem ich irgendwo hinaufkletterte. Je höher, desto besser. Opas Pferdewagen schien als Aussichtsplattform geradezu ideal. Ich bemühte mich, so professionell wie möglich vorzugehen und so weit wie möglich nach oben zu gelangen. Ich bewunderte die Tauben und Vögel, die mit Eleganz und Grazie von weit oben sicher auf dem Boden landen konnten.    

Als ich versuchte es ihnen gleichzutun bemerkte ich zu spät, dass mir keine Flügel gewachsen waren. Somit landete mein erster Flugversuch im Krankenhaus. Der Doktor war so nett und nähte meine Wunde am Kopf wieder zu, sodass mich mein Papa gleich wieder mit nach Hause nehmen durfte. „Mach’s gut“, sagte ich zum Abschied. Es war auch alles halb so schlimm. Einen Kerl wie mich haut so etwas nicht um.

Neugierig war ich ja eigentlich schon von Geburt an. Als ich dann endlich in zusammenhängenden Sätzen sprechen konnte, nervte ich meine Mitmenschen durch meine ständige Fragerei oft gewaltig. Am liebsten unterhielt ich mich mit älteren Damen, welche natürlich auch stets viel zu erzählen wussten. Von meiner Intelligenz waren alle tief beeindruckt. Mein scharfer Spürsinn, mein ausgezeichnetes Gehör und mein hervorragendes Gedächtnis ermöglichten es mir, die verschiedensten Geräusche nachzuahmen, oder zu unterscheiden. Bereits im zweiten Lebensjahr konnte ich wie ein Pferd wiehern und alle damals typischen Fahrzeuge allein am Geräusch unterscheiden. Nur eines begriff ich nicht sofort. Als Baby wurde ich immer für meine vollen Windeln gelobt und plötzlich war das nicht mehr fein. Aber wo sollte ich hin mit dem Zeug? Ich versuchte es solange wie möglich auszuhalten. Wenn mein Opa dann zum Mittagessen ging, lief ich schnurstracks zu seinem Traktor, wo ich mich versteckte. Dort genoss ich das Alleinsein und frönte meiner Leidenschaft. Um mir die anschließenden Konsequenzen zu ersparen, ergriff ich oftmals die Flucht. Manchmal entwischte ich sogar über den Gartenzaun zu den lieben Nachbarn. Inzwischen wurde mein Bruder Elvis geboren. Ich sah endlich ein, dass nur Babys die Hosen voll haben dürfen und Mama brauchte die Windeln sowieso für meinen Bruder. Als ich Elvis einmal baden wollte, passierte mir ein folgenschweres Missgeschick. Die Wanne kippte um und in unserer Küche konnte man fast schon Schiffchen schwimmen lassen. Ausreißen fand ich immer noch toll und meinen Bruder nahm ich später einfach mit. Einmal wurden wir auf frischer Tat ertappt. Wir rannten so schnell wir konnten. Mama wollte hinterdrein und stürzte dabei so sehr, dass ihre Hosen, Schuhe und Strümpfe kaputt waren. Sogar die Knie hatte sie sich aufgeschlagen. Das klettern brachte ich meinem Bruder ebenfalls beizeiten bei. Wir schafften es einmal sogar bis auf das Schuppendach, wo wir die gesamte Umgebung einsehen konnten. Es war fantastisch. Doch meine Eltern traf fast der Schlag, als wir ihnen von da oben verkündeten, dass es dort wie bei den Negern so heiß ist.

Als ich 3 Jahre alt war, durfte ich endlich in den Kindergarten gehen. Mit meiner Brottasche war ich allerdings überhaupt nicht zufrieden. Am liebsten hätte ich sie gegen einen Ranzen eingetauscht, wo ja viel mehr zu essen reinpasst. Ansonsten fand ich es aber im Kindergarten ganz ok. Mit Witz und Charme konnte ich viele Freunde gewinnen. Ich fand es unheimlich cool zwei Taschentücher in meiner Schürze zu haben. Als Mutti mich einmal fragte, wozu ich zwei brauche, antwortete ich ihr: „Falls sie zusammen boxen wollen.“ Ein anderes Mal, Sportstunde war angesagt, alle lagen auf dem Rücken und sollten Fahrrad fahren. Diese Strampelei hatte ich beizeiten satt. Lustlos überlegte ich, wie ich diesem Wahnsinn ein Ende bereiten könnte. Mir kam eine geniale Idee. Ich hörte einfach auf zu treten. Als die Kindergärtnerin mich ermahnte weiterzufahren, sagte ich: „Mein Fahrrad ist kaputt, ich mache nicht mehr mit.“

Meine Eltern brachten mir bei, immer höflich zu sein und nie schlechte Wörter zu sagen. Manchmal war ich jedoch regelrecht entsetzt, welche Worte die Erwachsenen in ihrem intellektuellen Wortschatz gebrauchten. Mit Mama spielte ich einmal Tierlotto. Auf einem Bild sah ich einen wunderschönen Vogel, den ich nicht kannte. Natürlich wollte ich sofort wissen, was das für ein Vogel ist. Mama sagte: „Das ist ein Kakadu.“ Voller Empörung sagte ich zu ihr: „Das ist aber ein schlechter Name.“

Schon vom Babyalter an war ich sehr oft erkältet und es wurde mit der Zeit immer schlimmer. Schließlich musste ich ins Krankenhaus. Meine Rachenmandeln sollten entfernt werden. Ich beschloss, die Schwestern erst einmal richtig aufzumischen. Leider konnten sie überhaupt keinen Spaß vertragen und ließen mich das auch spüren. Sie drohten mir sogar, dass ich für immer dableiben muss, weil meine Mama mich nicht wiederhaben will. Das war ein Schock. Als ich dann erfuhr, dass ich doch wieder abgeholt werde, war ich mächtig aufgeregt und zappelig vor Freude. Eine glühendheiße Rotlichtlampe holte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich hatte mir die Finger verbrannt, am Tag der Entlassung.

Bereits vier Wochen später machten wir Urlaub an der Ostsee. Wie es sich für einen richtigen Fisch gehört, war ich überhaupt nicht wasserscheu und stürzte mich in die 15°C kalten Wogen der rauschenden See, was mir eine erneute Erkältung und Bindehautentzündung einbrachte. Manche dachten ich hätte auch eine Ohrenentzündung, weil ich so schwer hörte. Aber da irrten sie sich. Was ich hören wollte, entging mir nicht.

Auch im darauffolgenden Jahr fuhren wir wieder an die Ostsee. Im Wasser fühlte ich mich immer am wohlsten und mit meinem Bruder heckte ich manchmal tolle Streiche aus. Mit unserem Bungalownachbarn, einem älteren Herrn namens Fritz, verstand ich mich ebenfalls blendend und ich neckte ihn oft mit den Worten: „Onkel Fritz, mit der Mütz, hebt’s Hemde hoch und spritzt.“ Eines Tages fand Elvis im Sand fünf Mark. Bisher ging es bei uns immer gerecht zu und ich dachte, mein Geld wird schon noch irgendwo im Sand versteckt liegen. Deshalb beschloss ich danach zu suchen. Ich grub den ganzen Sand um, leider vergebens.

Mir ist es vergönnt, eine große Beobachtungsgabe zu besitzen und außerdem bin ich sehr spitzfindig. Diese Tugenden wurden mir sozusagen schon mit in die Wiege gelegt. Mein Wortschatz war unermesslich und ich erfand stets neue Variationen, die einzelnen Wörter anzuwenden und bestimmten Dingen, oder auch Personen , neue wohlklingende Namen zu verleihen. Meine Mutti nannte ich beispielsweise eines Tages „kleine Kohlmeise“. Darüber war sie natürlich sehr erstaunt. Ich nannte sie so, weil sie gerade Kohlen in den Ofen gelegt hatte.

Mit 5 Jahren lernte ich dann endlich Fahrrad fahren. Schon seit geraumer Zeit spürte ich das Bedürfnis, mobiler zu sein, um bei Bedarf schneller zu meinen Kumpels gelangen zu können, oder um einfach zu türmen, wenn es mal wieder brenzlig war. Das Fahrrad fahren war für mich nicht das Problem, wohl eher das Anhalten. Doch auch da wusste ich mir zu helfen. Ich bin einfach währen der Fahrt abgesprungen und habe das Fahrrad dabei hingeschmissen.

Cowboy und Indianer spielen zählte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Natürlich besaß ich alles, was man für solche Spielchen braucht. Und ich konnte auch alles gebrauchen. Mein Onkel hatte die Angewohnheit, sein Luftgewehr manchmal arglos im Haus zurückzulassen. Als die Luft rein war, erlaubte es mir meine spielerische Neugierde nicht, daran vorbeizugehen, ohne es ausprobiert zu haben. Da er die Munition allerdings am Mann trug, musste ich mit winzig kleinen Steinchen vorlieb nehmen.

Meine aufregende Kinderzeit verging wie im Fluge und es nahte der Tag der Einschulung. Ich konnte es kaum erwarten, meine kleine Brottasche gegen einen großen Ranzen einzutauschen. Als dieser dann mit Büchern und Heften vollgestopft wurde, anstatt mit reichlich Pausenbroten war ich schon etwas enttäuscht. Aber mir blieb ja noch meine Zuckertüte.

Zum Schulanfang kam sogar ein Onkel aus dem Westen. Dieser schenkte mir einen Kaugummi. Einen Westkaugummi natürlich. Er war wohl etwas arm und konnte mir keine größeren Dinge schenken.

In der Schule hielt sich meine Begeisterung in Grenzen und im Unterricht träumte ich viel in den Tag hinein. Deshalb konnte ich den Worten meiner Lehrerin oft nicht folgen. Erschwerend war noch, dass ich sie auf Grund meiner vielen Mittelohrentzündungen manchmal wirklich  sehr schlecht hörte und der Rest interessierte mich nicht. Außerdem stand ich mit ihr auf Kriegsfuß. Sie konnte mich scheinbar nicht leiden, was ich recht oft zu spüren bekam.

Giftige Blicke bekam ich auch ständig von meiner Hortnerin, die mit der Lehrerin sowieso unter einer Decke steckte. Manchmal heckten die Zwei böse Streiche gegen mich aus. Eines Tages wollte mich meine Lehrerin sogar skalpieren. So schnell konnte ich gar nicht reagieren, wie sie einen Büschel Haare von mir in der Hand hielt. Meine Oma wunderte sich über meinen kreisrunden Haarausfall und ich erzählte ihr von meinen Nöten. Voller Empörung ging sie mit mir zum Arzt und begab sich anschließend auf feindliches Gebiet, um den Gegner einzuschüchtern, was ihr anscheinend auch gelang. An meine Schulzeit erinnere ich mich sonst nicht so gut, aber eine peinliche Situation geht mir nicht aus dem Kopf. Zur Schuluntersuchung erschien eine Ärztin und nicht wie gewöhnlich ihr männlicher Kollege. Das irritierte mich schon gewaltig. Als sie dann noch von mir verlangte, mich komplett zu entblößen, war mir das ernsthaft zu viel. Sichtlich genervt und verzweifelt blickte ich meine Mutter an und flehte: „Nein, die will bloß alles sehen.“ Doch es half nichts, ich musste die Hosen runter lassen.

Die Jahre vergingen und ich wuchs zu einem stattlichen, schönen Jüngling heran.

Jugendweihe, Konfirmation und Tanzstunde waren Höhepunkte, an die ich mich gern erinnere.

Aus meiner weiteren Teenagerzeit möchte ich aus sittlichen Gründen hier lieber nicht berichten. Meine Großeltern wären sonst vielleicht einer Ohnmacht nahe und meine Eltern würden mich womöglich enterben.